Reden im Landtag

Christiane Böhm - Kinderarmut kann nicht mit Hartz IV light überwunden werden

Christiane BöhmFamilien-, Kinder- und JugendpolitkSoziales

In seiner 106. Plenarsitzung am 01. Juni 2022 diskutierte der Hessische Landtag zur Umsetzung des Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetzes des Bundes in Landesrecht. Dazu die Rede unserer sozial- und familienpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Herr Bocklet, da freue ich mich doch, dass Sie so interessiert unsere Presseerklärungen lesen. Herzlichen Dank dafür.

(Beifall DIE LINKE)

Ich hoffe, Sie lernen daraus.

(Zurufe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schließlich geht es um ein wichtiges Thema: Im vorletzten Jahr war in Hessen ein Viertel der Kinder und Jugendlichen armutsbetroffen. Das hat uns die Bundesregierung auf Anfrage der Fraktion DIE LINKE im März dieses Jahres mitgeteilt. Damit liegt Hessen bundesweit auf Platz 3 und hat einen traurigen Spitzenplatz unter den Flächenländern eingenommen. Ganz genau 23,8 % der hessischen Kinder und Jugendlichen leben im reichen Hessen in Armut.

Von der Landesregierung – das war die Bundesebene – kommt, was dieses Thema betrifft, nur dröhnendes Schweigen. Sie schmücken sich zwar ganz gern mit den Kinderrechten, aber das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und das Recht auf ein gesundes und diskriminierungsfreies Aufwachsen sind für ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Hessen keine Realität. Diese Erkenntnis ist nicht neu.

(Beifall DIE LINKE)

Spätestens mit dem 2. Hessischen Landessozialbericht aus dem Jahr 2017, der den Schwerpunkt Kinderarmut hatte, traten diese Punkte offen zutage. Liebe Landesregierung, das war Ihr Bericht. Aber welche Schlussfolgerungen haben Sie denn in den vergangenen fünf Jahren daraus gezogen? Keine, wie die seit über zehn Jahren in die Höhe schnellenden Armutsquoten in Hessen belegen. Wenn einmal etwas kommt, sind es Miniprojekte, die an der Realität der meisten Kinder und Jugendlichen in Hessen vorbeigehen.

Das beste Beispiel ist Ihr Landesprogramm „Präventionsketten in Hessen“. Ja, Präventionsketten braucht man. Das ist ein sinnvolles Instrument. Aber Präventionsketten braucht man nicht nur in wenigen Modellkommunen, sondern flächendeckend und überall dort, wo Kinder und Jugendliche in Armut leben.

(Beifall DIE LINKE)

Aber die Hessische Landesregierung müsste sich darüber überhaupt erst einmal Kenntnis verschaffen: Wo sind eigentlich die Orte? Wo ist es traurige Realität, dass Geld für Schulmaterial, für gesundes Mittagessen, für den Sportverein und für das Schwimmbad fehlt?

Die Befristung des Programms und die Eigenbeteiligung der Kommunen in Höhe von 45 % machen das Ganze völlig absurd. Welche arme Kommune – davon kenne ich einige in Hessen – kann sich das denn leisten? Es hilft auch nicht wirklich, wenn ein Kind an einem Ort etwas Unterstützung erhält, aber die Kinder in den umliegenden Orten überhaupt nicht davon profitieren. Dann ist das keine Politik, die die Armut tatsächlich bekämpft, sondern das ist dann Projektitis mit Pflästerchenkleberei. Wenn diese Landesregierung tatsächlich Politik gestalten will, muss sie sich dem Thema Kinderarmut stellen und darf nicht nur kleinste Projekte auf den Weg bringen.

(Beifall DIE LINKE)

So werden Sie der steigenden Kinderarmut in unserem Land nichts entgegensetzen. Da das Wort „Kinderarmut“ nicht einmal in den schwarz-grünen Koalitionsvertrag gekommen ist, sage ich klipp und klar und ganz besonders an die Adresse der GRÜNEN gerichtet: Für Sie ist das Thema ein reines Schaufenster. Sie wollen an den gesellschaftlichen Ungleichheiten überhaupt nichts Wesentliches ändern, weil Sie sich in dieser kaputten Welt längst hervorragend eingerichtet haben. Die soziale Frage ist bei den GRÜNEN völlig unter die Räder gekommen.

Dieser Blickwinkel kommt auch in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zum Ausdruck, den die GRÜNEN und die SPD – alle, oder viele, zusammen – zu verantworten haben. Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sollen diese berühmten 20 € mehr erhalten. Das entspricht nicht einmal dem Inflationsausgleich. Herr Schad, da kann ich Ihnen ausnahmsweise zustimmen.

Die Diakonie hat schon vor der aktuellen Preisexplosion errechnet, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche durchschnittlich um 78 € unter dem realen Bedarf liegen. Das war lange vor der Zeit, in der wir Steigerungen der Lebensmittelpreise um mehr als 10 % erlebt haben. Wenn es der ganz großen Koalition, bestehend aus den regierungstragenden Fraktionen in Land und Bund, tatsächlich um ein kindgerechtes und wenigstens halbwegs armutsfestes Aufwachsen ginge, müssten die Erhöhungen bei mindestens 100 € pro Monat liegen.

Sie behaupten jetzt, dies sei alles nur ein Übergang bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Kindergrundsicherung komme.

Schön wäre es. Wolfgang-Hubertus Heil hat in der vergangenen Woche erklärt, wie er sich das Bürgergeld und die Kindergrundsicherung vom Leistungsniveau her in etwa vorstellt: 40 bis 50 € mehr pro Monat, das ist ein Zuwachs um etwa 10 %, aber natürlich nicht vor Januar 2023. Aber auch dann gilt, wie beim heute vorliegenden Gesetzentwurf: Bis dahin ist der vermutliche Zugewinn längst durch die Preissteigerung aufgefressen. Existenzsichernd wären diese Erhöhungen – auch ohne Inflation – ohnehin nicht annähernd.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Also, DIE LINKE lehnt das Gesetz jetzt ab, oder? Als Konsequenz muss sie das ablehnen! Das stelle ich hier nur einmal fest!)

Es ist wirklich zum Fremdschämen, wie SPD und GRÜNE im Bund in trauter Zusammenarbeit mit der FDP an einem Hartz-IV-light-System arbeiten. So viele Verbände und Organisationen haben Konzepte für eine Kindergrundsicherung diskutiert und waren sich weitgehend einig. Jetzt wollen Sie mit solchen mickrigen Neuerungen kommen. Das reicht nicht. Das sage ich im Interesse derjenigen, die weiter von Armut betroffen sein werden.

(Beifall DIE LINKE)

Das Bündnis Kindergrundsicherung von 14 großen Organisationen hat klargestellt: Es soll eine gestufte Kindergrundsicherung in Höhe von 451 € als unbürokratische Leistung garantiert werden. Solange nicht alle Leistungen für Bildung, Betreuung und Erziehung gebührenfrei zur Verfügung stehen, werden 244 € pro Monat zuzüglich gefordert. Diese Beträge sollen mit steigendem elterlichem Einkommen abgeschmolzen werden, sodass alle Eltern mindestens 330 € erhalten; und lediglich pauschal bemessene Transfers, die bisher schon stattgefunden haben, sollen damit ersetzt werden, für das Studium und die Ausbildung bis zum 25. Lebensjahr. Das würde dem Ansinnen einer Kindergrundsicherung wirklich entsprechen; und ich erwarte Ihr Engagement für eine echte Kindergrundsicherung und nicht für ein Kinder-Hartz-IV.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsidentin Karin Müller:

Frau Abg. Böhm, ich erwarte, dass Sie jetzt zum Schluss kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Landes- und Bundesregierung sind in einem herzlich vereint: Ihnen geht es um Armutsverwaltung, nicht um deren entschlossene Reduzierung. Sie finden über Nacht 100 Milliarden € für Aufrüstung. Sie zeigen aber kein ernsthaftes Interesse am Engagement gegen Armut. – Herzlichen Dank.

(Beifall DIE LINKE)