Reden im Landtag

Christiane Böhm: Gewaltschutz muss anders gedacht und finanziell besser aufgestellt werden

Christiane BöhmFamilien-, Kinder- und JugendpolitkSoziales

In seiner 74. Plenarsitzung am 19. Mai 2021 diskutierte der Hessische Landtag zum Gewaltschutz für Kinder und Jugendliche Dazu die Rede unserer sozialpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Ja, wir reden heute über ein ausgesprochen wichtiges Thema. Gewalt ist leider immer noch ein Bestandteil des Lebens vieler Kinder und Jugendlicher in diesem Land. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat viele Gesichter: physische, psychische, sexualisierte, in der eigenen Familie, im Bekannten- und Freundeskreis, in der Schule, im Sportverein oder in stationären Einrichtungen, ja, auch im Internet.

Frau Claus, Sie haben sich in Ihrer Rede vorwiegend mit der Strafverfolgung mit Blick aufs Internet beschäftigt. Mich hat das sehr enttäuscht. Ich denke, Gewalt hat noch viel mehr Facetten, viel mehr Themen, gerade Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, und die habe ich in Ihrer Rede eindeutig vermisst.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Was ich in dem Antrag von CDU und GRÜNEN auch vermisst habe: Auch Armut ist eine Form von Gewalt. Kinderund Jugendarmut schadet den Entwicklungsmöglichkeiten der Betroffenen. Sie ist als strukturelle Gewalt perfider, aber genauso zerstörerisch und schwer zu erkennen. Armut führt auch häufiger zu der Situation, dass man Opfer von sexualisierter und anderer Gewalt wird.

Ich erwähne das ausdrücklich, weil das in der Diskussion oft viel zu kurz kommt. In Ihrem Antrag ist es nicht aufgeführt worden, wie auch im ganzen Koalitionsvertrag das Thema Kinderarmut nicht einmal auftaucht, obwohl nach Daten des Paritätischen Gesamtverbandes inzwischen 21,9 % der unter 18-Jährigen in Hessen arm sind.

Ihr Antrag blendet nicht nur die soziale Situation vieler hessischer Kinder und Jugendlicher komplett aus. Er zeigt auch wieder einmal sehr schön, wie in Hessen von schwarz-grüner Seite Politik gemacht wird. Ich nenne nur das Stichwort Leuchtturmprojekte. Das kennen wir von irgendwoher. Ich habe nichts gegen hervorragende Einzelprojekte wie die Kinderschutzambulanz am Uniklinikum Frankfurt oder Ihr Ziel, ein Childhood-Haus nach schwedischem Vorbild in Hessen anzusiedeln. Da wird ohne Frage sicherlich gute Arbeit geleistet. Das Problem bei Leuchttürmen ist allerdings, dass das ein heller Punkt ist, und ringsherum ist es dunkel.

Ich kann Ihnen sagen, was mir die Menschen aus der praktischen Kinderschutzarbeit zurückmelden, wenn sie Ihren Antrag lesen: Mit den Mitteln für solche Leuchttürme könnte die Arbeit der ebenso hervorragenden schon etablierten Einrichtungen auf ein viel stärkeres und sicheres Niveau gehoben werden. – Hier wäre die Aufforderung, diese Arbeit richtig und finanziell ordentlich zu unterstützen.

(Beifall DIE LINKE)

Das ist keine Neiddiskussion, sondern das ist das Ergebnis davon, dass die kommunalisierten sozialen Hilfen in Hessen nicht dynamisiert sind und wir in der Breite des Sozialsystems ganz viel prekäre Arbeit, befristete Projekte und erzwungene Eigenanteile von Trägern haben, was die tägliche Arbeit stark belastet und einschränkt. Diese Grauzone im Schatten der Leuchttürme fällt in Ihre Verantwortung.

Ich will auf ein paar Punkte Ihres Antrags eingehen. In Punkt 2 geht es um die Landesaktionspläne. Lisa Gnadl hat sich damit schon beschäftigt. Es geht um den Aktionsplan gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen sowie um den Landesaktionsplan zur Bekämpfung häuslicher Gewalt.

Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich glaube, es war eine meiner ersten Reden, die ich in diesem Haus im Februar 2019 gehalten habe. Diese Rede galt dem Landesaktionsplan zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und seiner notwendigen Anpassung an die Bestimmungen der Istanbul-Konvention. Damals hat uns Minister Klose eine Evaluation der Landesaktionspläne versprochen. Heute, mehr als zwei Jahre später, steht dasselbe in Ihrem Antrag. Was haben Sie denn in den letzten zwei Jahren gemacht?

(Zuruf)

– Nein, es gab nicht nur die Corona-Pandemie. Es sind zwei Jahre. Man kann sich damit nicht immer herausreden.

Auch bei der Corona-Pandemie spielt Gewalt eine große Rolle. Schaffen Sie es endlich einmal, tatsächlich nützliche Konzepte gegen Gewalt auf den Weg zu bringen und für deren Umsetzung zu sorgen.

(Beifall DIE LINKE)

In Punkt 3 Ihres Antrags thematisieren Sie im Kontext der Schulen interessanterweise nur die Speak-Studie. Kein Wort steht da zur Kampagne „Schule gegen sexuelle Gewalt“ oder zu der seit 2017 vorliegenden „Handreichung zum Umgang mit sexuellen Übergriffen im schulischen Kontext“ aus dem Kultusministerium.

Vielleicht liegt das daran, dass die Kampagne nur sehr unzureichend mit Mitteln ausgestattet wurde. So höre ich zwar, dass theoretisch an jeder Schule eine Ansprechperson für dieses Themenfeld etabliert werden soll, dass das aber nur sehr schleppend läuft, weil kaum Mittel für die Fortbildung da sind, es keine Deputate für Beratung gibt, usw. Die Kolleginnen und Kollegen, die das machen, machen das sozusagen ehrenamtlich nebenbei.

Frau Claus hat uns heute versprochen, dass das in das Schulgesetz aufgenommen wird. Das wäre tatsächlich ein Fortschritt. Ich warte auf Ihre Initiative. Nein, ich warte nicht mehr. Ich glaube, diese Initiative ist überfällig. Ich erwarte, dass das schnellstens erfolgt und dass auch diese Maßnahme der Früherkennung und Prävention vom Hessischen Kultusministerium entschieden und ernsthaft genutzt wird.

(Beifall DIE LINKE)

In Punkt 6 Ihres Antrags bin ich über diese „landesweit agierende Koordinierungsstelle“ gestolpert. Da dachte ich: Huch, sie werden doch nicht endlich die Landeskoordinierungsstelle einrichten, die die Istanbul-Konvention vorschreibt.

Die Enttäuschung kam schnell und auf dem Fuß. Ich habe mich umgehört. Es handelt sich dabei um eine Person mit wöchentlich 15 Arbeitsstunden, die in einem dreijährigen Projekt ein Konzept für eine Koordinierungsstelle entwickeln soll, von der ich noch nicht einmal weiß, was da koordiniert werden soll. Das wird in dem Antrag vollmundig als „Koordinierungsstelle“ bezeichnet. Das ist, mit netten Worten gesagt, völlig unseriös. Es ersetzt überhaupt nicht die notwendigen Maßnahmen, die die Istanbul-Konvention von uns fordert. Ich erwarte von dieser Landesregierung, dass sie ernsthafte Schritte unternimmt und diese Koordinierung mit einer professionellen und ordentlichen Konzeption tatsächlich umsetzt.

(Beifall DIE LINKE)

Ich möchte mich ausdrücklich bei dem Fachberatungsnetz bedanken, das wir in Hessen haben und das trotz aller Rückschläge sehr erfolgreich, sehr gut und sehr wirksam arbeitet. Ich bedanke mich ausdrücklich bei diesen Kolleginnen und Kollegen. Viele Einrichtungen gibt es vom Kinderschutzbund, von Wildwasser, aber auch von regionalen Trägern. Ich denke, diese Arbeit ist total wichtig und ganz wesentlich.

Aber das reicht uns nicht. Das reicht überhaupt nicht, um das Problem tatsächlich zu behandeln. Es ist tatsächlich notwendig, weitere qualifizierte Beratungsstellen und Netzwerke gegen sexuelle Gewalt und andere Formen der Gewalt zu schaffen. Ich weiß auch nicht, wie Sie in Ihrem Punkt 6 dazu kamen, 52 Beratungs- und Interventionsstellen in Hessen anzugeben. Ich bin vorhin beim Zählen auf 41 gekommen. Wir hatten heute Morgen schon öfter Zahlendiskrepanzen. Vielleicht können Sie das anschließend noch einmal aufklären.

Aber das halte ich angesichts der Fläche für zu wenig. Wir haben in Hessen riesige Flächenkreise. Wenn es da wirklich zwei Fachberatungsstellen gibt, sind die dort Arbeitenden überhaupt nicht in der Lage, die ganzen Fragen der Prävention zu behandeln und die Fachberatung der Kolleginnen und Kollegen in den Kindertagesstätten und Schulen zu leisten. Sie sind nicht in der Lage, auf die speziellen Bedürfnisse der Kinder mit Migrationshintergrund, mit Behinderungen, mit Beeinträchtigungen sowie auf die Jungen und Männer einzugehen, die in der Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, usw. Sie sind überhaupt nicht in der Lage, diese Konzepte umzusetzen. Sie sind völlig überlastet und völlig überfordert.

Die Kampagne „Schule gegen sexuelle Gewalt“ muss mit mehr Mitteln ausgestattet werden, damit die tatsächlich engagierten Lehrkräfte nicht ausbrennen. Das Thema muss an den Schulen viel stärker behandelt werden. Wir wissen, dass in jeder Klasse mehrere Kinder sitzen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Es ist notwendig, da etwas zu machen.

Die Schulen brauchen verpflichtende Schutzkonzepte. Wie gesagt, die Fachberatungsstellen haben gar nicht die personellen Möglichkeiten, an allen Schulen Unterstützung zu leisten. Sie können an den Schulen auch nicht begleiten. Die Schulen haben auch nicht die Möglichkeit, diese Expertise zu bezahlen. Das ist ein Teufelskreis, den das Kultus- und das Sozialministerium unterbrechen müssten.

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ich bleibe natürlich bei meiner Forderung nach einem Landesaktionsplan gegen Kinder- und Jugendarmut. Wenn in Hessen jedes fünfte Kind von Beginn an keine Aussicht auf gleichberechtigte Teilhabe hat, ist das ein klarer Verstoß gegen die Kinderrechte. Immerhin haben wir in Hessen das Jahr der Kinder- und Jugendrechte-Charta. Sehr verehrte Vertreterinnen und Vertreter der Hessischen Landesregierung, das ist doch so richtig? – Ich bedanke mich.

(Beifall DIE LINKE)