Reden im Landtag

Christiane Böhm zur hessischen Impfstrategie: Zügig vorankommen, niemanden vergessen

Christiane Böhm
Christiane BöhmCoronaGesundheit

In seiner 62. Plenarwoche am 10. Dezember 2020 diskutierte der Hessische Landtag über die Corona-Impfstrategie des Landes Hessen. Dazu die Rede unserer gesundheitspolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren!

Impfungen sind ein entscheidender Schlüssel zur erfolgreichen Bekämpfung von Viruserkrankungen. Daher – da stimmen wir vollkommen überein – ist es ein wesentlicher Fortschritt, dass Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 in absehbarer Zeit verfügbar sein werden. Ich begrüße es auch, dass sich alle Bundesländer deshalb zügig auf den Weg gemacht und sich ehrgeizige Ziele für eine flächendeckende Impfkampagne gesetzt haben. Das ist richtig und notwendig.

Es ist auch vollkommen verständlich, dass priorisiert werden muss, wer zuerst geimpft wird. Auch wenn die Pharmabranche zurzeit auf Vorrat produziert, sind die Ressourcen und insbesondere das Personal endlich. Die in dieser Woche von der Ständigen Impfkommission, STIKO, vorgelegte Reihenfolge überrascht mich deshalb nicht. Ich sehe aber auch durchaus einige Lücken.

Es ist richtig, die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen so schnell wie möglich zu impfen und in diesem Zusammenhang auch gleich das dort arbeitende Personal. Für mich weiter ungeklärt ist aber, wie ein vergleichbares Angebot für den größten Anteil der Pflegenden und Pflegebedürftigen – ich meine den Bereich der häuslichen Pflege – gemacht werden soll. Insbesondere Familienangehörige, die arbeiten gehen und nebenher pflegen oder die pflegen und nebenher arbeiten gehen, haben oft große Angst, das Corona-Virus in die eigene Familie hineinzutragen.

Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die den größten Teil der Testungen vornehmen, werden nachrangig geimpft. Mehrfach vulnerable Personengruppen, auch jüngere, die viele Krankheiten haben, werden noch nicht angemessen erfasst. Hier müssen noch gute Antworten gefunden werden.

Vergleichbares gilt beispielsweise für obdachlose Menschen, die kaum zu erfassen sind, insbesondere dann, wenn sie nicht in Unterkünften untergekommen sind. Auch Menschen ohne einen legalen Aufenthaltsstatus brauchen ein Angebot zur Impfung. Diese können schließlich nicht einfach anhand des Einwohnermeldeverzeichnisses eingeladen werden. Hier gibt es wirklich einen großen Bedarf, noch nachzuarbeiten.

Ich schließe mich dem Dank von Herrn Bauer gerne an: an die Kommunen, an die Hilfsorganisationen und insbesondere an den sehr belasteten öffentlichen Gesundheitsdienst, der im vergangenen Dreivierteljahr und auch schon zuvor Ungeheures geleistet hat und jetzt wieder das Zentrum der Aufwendungen ist.

(Beifall DIE LINKE)

Ich sehe einige Belastungen auf die Kommunen zukommen, insbesondere wenn es um die Anwerbung von Impfpersonal und von Ärztinnen und Ärzten sowie um die Organisation der Impfzentren geht. Das sind große Herausforderungen. Ich hoffe, dass das Land bei seinen Versprechungen bleibt, die Kommunen entsprechend zu unterstützen.

In diesem Bereich muss nachgesteuert werden. Aber auch in einem anderen Bereich muss dringend nachgesteuert werden. Da haben wir nur mittelbaren Einfluss. Für uns als LINKE ist klar, dass es zu diesen Fragen ein Bundesgesetz braucht.

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat ausdrücklich davor gewarnt, die STIKO-Empfehlungen per Rechtsverordnungen umzusetzen, wie dies bisher wohl im Bundesgesundheitsministerium geplant wird. Eine solche Rechtsverordnung kann juristisch angreifbar sein, sei es durch Impfgegner oder Corona-Leugner, sei es durch Personen, die die Reihenfolge infrage stellen und schneller geimpft werden wollen. Ein Gesetz ist aber auch deshalb erforderlich, weil sich bei diesen neuen und unerprobten Impfstoffen natürlich auch Risiken ergeben können. Es geht auch um eine klare Absicherung bei möglichen Impfschäden, bei Haftungsfragen für die Firmen, für die staatliche Seite, aber auch für die impfenden Ärztinnen und Ärzte. Außerdem geht es um eine demokratische Legitimation und eine Debatte zu diesem Thema.

(Beifall Torsten Felstehausen (DIE LINKE))

Ich fordere Sie deshalb auf, Herr Klose, sich in den BundLänder-Gesprächen dafür starkzumachen, dass eine eigenständige gesetzliche Grundlage für das Impfprozedere schnellstmöglich erfolgt.

(Beifall DIE LINKE)

Ich möchte aber auch betonen, dass die Verfügbarkeit des Impfstoffes noch lange nicht alle Probleme löst. Ich kann ja verstehen, dass manche CDUler so kurz vor Weihnachten den Chef von Biontech, Ugur Sahin, fast wie einen neuen Heiland feiern. Warum seine Geschäftspartnerin, Frau Dr. Özlem Türeci, so selten genannt wird, ist wohl dem altbekannten Patriachat geschuldet.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD – Zurufe)

– Ich freue mich, dass ich bei diesem schwierigen Thema für Erheiterung sorge.

(Zurufe – Glockenzeichen)

Aber nur, weil die Impfungen beginnen, haben wir noch lange nicht die Pandemie besiegt. Aktuell wissen wir weder, wie lange die Immunisierungswirkung anhält, noch, ob der Impfstoff bei möglichen Virusmutationen schützt. Es kann sogar einen gegenteiligen Effekt geben. In der Erwartung, dass Risikogruppen durch die Impfungen geschützt werden, kann das zeitnah zu Nachlässigkeiten bei den Schutzmaßnahmen führen. Wenn alle nur noch auf die Impfrate schauen, dann wird es viel schwieriger werden, die Menschen zu überzeugen, sich dennoch pandemiekonform zu verhalten. Das werden wir sicherlich noch eine ganze Zeit lang tun müssen.

Deswegen möchte ich auf den ersten Teil der Überschrift Ihres Antrags zu sprechen kommen:

Vorausschauend und verantwortungsvoll durch die Pandemie …

Meine sehr geehrten Damen und Herren von SchwarzGrün, vorausschauend war bisher eigentlich nichts an dieser Pandemiebewältigung. Vorausschauend wäre gewesen, das Angebot des hessischen Jugendherbergsverbandes vom März zeitnah aufzugreifen, um Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete zu dezentralisieren, statt dann im November gerade mal eine Jugendherberge, nämlich die in Büdingen, zu nutzen, nachdem schon Hunderte Geflüchtete infiziert wurden.

(Beifall DIE LINKE)

Vorausschauend wäre es gewesen, Corona-Schnelltests frühzeitig zu ordern, um sie dann an die Alten- und Pflegeheime abzugeben. Stattdessen hat der Gesundheitsminister fast das ganze Jahr lang von einer trügerischen Scheinsicherheit gesprochen. Ich habe ihn schon im Frühjahr gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, dass die Pflegekraft zumindest eine kurzfristige Gewissheit hat, statt sie in ständiger Ungewissheit leben zu lassen.

Die Pflegekraft will das Virus nicht in die Einrichtung tragen. Es wurde nicht getestet, weil es keinen Ersatz für infizierte Pflegekräfte gibt. Die hohen Todeszahlen von Patientinnen und Patienten, die an oder mit COVID-19 erkrankt sind, in den hessischen Altenheimen zeigen doch, dass es auch vorher schon nicht gestimmt hat. Die Personalnot war doch schon zuvor für jeden, der hingeschaut hat, greifbar und sichtbar.

Wenn jetzt ständig Anträge an das Gesundheitsamt gestellt werden, dass infizierte Pflegekräfte weiterarbeiten müssen, weil sonst der Laden zusammenbricht, ist das eine Bankrotterklärung unserer Altenpflege.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn ständig Zeitarbeitskräfte finanziert werden müssen, weil das Personal nicht ausreicht, zeigt das doch deutlich, dass die Bezahlung überhaupt nicht stimmt. Das zeigt doch, wie wenig wichtig den Regierungen in diesem Land die Situation alter und pflegebedürftiger Menschen und der Beschäftigten ist. Es kann doch nicht verwundern, dass sich viele Pflegekräfte wegen der herrschenden Arbeitsbedingungen aus dem Beruf verabschieden.

Hier ist ein Umsteuern dringend erforderlich – und zwar mit und ohne Pandemie –, wenn Sie sich nicht den Vorwurf gefallen lassen wollen, dass Sie wissentlich den Tod der Menschen in Kauf nehmen.

Statt zu handeln, wartet Hessen auf ein Bundesgesetz. Bis heute sind dank langer Bearbeitungsdauer durch die Regierungspräsidien noch immer keine Schnelltests in den meisten Einrichtungen zu haben. Diese sind auch nicht ausreichend. Vorausschauend wäre es gewesen, von Anfang an an der Seite der Altenheime zu stehen und zu handeln.

(Beifall DIE LINKE und Dr. Daniela Sommer (SPD))

Vorausschauend wäre es gewesen, wenn die 3 Millionen FFP2-Masken für Senioreneinrichtungen nicht erst im Dezember, sondern bereits im Oktober ausgegeben worden wären. So hätte man einige Todesfälle im November vermeiden können.

Vorausschauend wäre es gewesen, wenn die Schulen klare Informationen bekommen hätten, ab welchen Inzidenzwerten welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn es wenigstens für die weiterführenden und die beruflichen Schulen Planungen und auch die technischen Voraussetzungen zum Wechselunterricht gegeben hätte.

Ich könnte noch zahllose weitere Beispiele anführen, was vorausschauend gewesen wäre. Ein Punkt ist mir aber so wichtig, dass ich noch darauf eingehen möchte. Der Zugang zu Impfungen muss tatsächlich global allen Menschen garantiert werden. Biontech, Moderna und all die anderen Pharmafirmen haben Milliarden Euro aus Steuergeldern erhalten, um möglichst zügig funktionierende Impfstoffe zu entwickeln. Das war vollkommen richtig. Ich würde mir wünschen, dass annähernd vergleichbare Mittel auch zur Bekämpfung anderer Krankheiten zur Verfügung stünden und dass nur ein Bruchteil der Mittel regelhaft für die Arbeit der WHO da wäre, damit sich diese aus der Abhängigkeit privater Geldgeber befreien kann.

(Beifall DIE LINKE)

Nun muss aber gelten: Was vorwiegend mit Steuermitteln entwickelt wurde, darf nicht so patentiert werden, dass es für den globalen Süden verschlossen bleibt. Ich möchte nicht erneut erleben, wie etwa bei den Therapiemöglichkeiten bezüglich HIV, dass Millionen Menschen nur aufgrund des Patentschutzes elendig zugrunde gehen. Was mit Steuermitteln entwickelt wurde, muss der gesamten Weltgesellschaft solidarisch zur Verfügung stehen.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin Böhm, Sie müssen zum Schluss kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Das mache ich. – Auch das ist eine gesellschaftliche Verantwortung, der wir uns alle zu stellen haben. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)