Reden im Landtag

Christiane Böhm - Kloses Arbeitsverweigerung auf Kosten der Eltern und Kinder muss ein Ende haben

Christiane Böhm
Christiane BöhmCoronaFamilien-, Kinder- und Jugendpolitk

In seiner 41. Plenarsitzung am 27. Mai 2020 diskutierte der Hessische Landtag kontrovers über das Öffnungskonzept für die hessischen Kitas nach der Corona-Pandemie. Dazu die Rede unserer sozialpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren!

Wer die Kommentare vieler hessischer Eltern in den sozialen Netzwerken und die Schreiben der Eltern und Verbände wahrnimmt, wer die gestrige Kundgebung vor der Staatskanzlei verfolgt hat – Kollegin Lisa Gnadl hat gerade schon etwas dazu gesagt – oder auch den offenen Brief der Kinderbeauftragten aus Frankfurt liest, kommt zu einem eindeutigen Fazit: Die schwarz-grüne Landesregierung hat Eltern, Erzieher und Kinder maßlos enttäuscht.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Seit Wochen gibt es Hinweise aus der Wissenschaft, von Elterninitiativen, Gewerkschaften, vom Kinderschutzbund und von vielen anderen, dass es nicht nachvollziehbar ist, warum fast alles wieder öffnen darf, es aber keine Priorität für frühkindliche und schulische Bildung gibt. Wochenlang hat Sozialminister Klose mantraartig betont, dass mit dem eingeschränkten Regelbetrieb ab dem 2. Juni alles zum Besseren gewendet würde. – Und dann geben Sie letzte Woche eine Pressekonferenz, die das genaue Gegenteil belegt.

Ihr sogenanntes Konzept bedeutet schlicht und ergreifend, dass sich das Land zurücklehnt – Frau Gnadl hat es gesagt – und die komplette Verantwortung an die Kommunen delegiert. Sie hatten so viel Zeit, sich Gedanken über eine Wiedereröffnung zu machen. Herausgekommen ist aber nichts. Sie hatten die Möglichkeit, mit Trägern ein Konzept zu erarbeiten. Dass jetzt aber nur die Kommunalen Spitzenverbände mitreden dürfen und da auch nur einzelne Interessen berücksichtigt werden, ist wirklich ein Skandal.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Sie können nicht sagen, wie hoch die Betreuungskapazitäten in den Kitas sind. Deswegen sind Sie auch nicht in der Lage, Aussagen zu Maximalgrößen von Gruppen zu treffen oder auch, wie Thüringen, Maßgaben vorzugeben, wie viele Kinder wie viel Raum beanspruchen. Sie wagen es nicht einmal, eine klare Empfehlung auszusprechen, dass Erzieherinnen und Erzieher, die zu Risikogruppen gehören, nicht beschäftigt werden sollen. Die betroffenen Kolleginnen und Kollegen müssen sich jetzt – ohne Ihre Unterstützung – allein mit der Situation und ihrem Arbeitgeber auseinandersetzen.

Die Eltern, die sich auch dank der von der schwarz-grünen Landesregierung zu verantwortenden Öffnungsreihenfolge – zuerst die Autohäuser, dann die Shoppingmalls, dann die Tattoostudios und die Biergärten – einem immensen Druck vonseiten ihrer Arbeitgeber ausgesetzt sehen, wissen nach Ihrer Pressekonferenz und Ihrem angeblichen Konzept genauso wenig wie zuvor, wie sie nächste Woche ihre Arbeitssituation überstehen können.

Ich möchte jetzt aber auch keine Einrichtungsleiterin sein. In den Einrichtungen laufen jetzt aktuell die Telefone heiß, weil Hunderte von Eltern sich erkundigen, ob ihr Kind ab dem 2. Juni eines der Glücklichen ist, das wieder in die Einrichtung kommen darf. Die Einrichtungsleitungen haben darauf keine Antworten, weil Sie sich geweigert haben, irgendwelche Standards oder Rahmenbedingungen vorzugeben. Es ist unverantwortlich, dass Sie die Träger, die Erzieherinnen und Erzieher und vor allem die Eltern und Kinder schlicht im Regen stehen lassen.

(Beifall DIE LINKE)

Man kann ja nicht sagen, dass es keine Konzepte gäbe. Es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen. Es gibt den Vorschlag von ver.di, der hohe Ansprüche an den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Kolleginnen und Kollegen stellt. Es gibt Vorschläge, wie das Positionspapier der vier medizinischen Fachgesellschaften aus der vergangenen Woche, die fordern, wieder alles aufzumachen, weil sie Kindern und Jugendlichen ein deutlich geringeres Infektions- und Übertragungsrisiko zusprechen. Aber auch der Virologe Drosten spricht sich für die Öffnung der Kitas und Schulen aus. Und es gibt die Konzepte aus den verschiedenen Bundesländern. – Das ist nur eine kleine Auswahl.

Auch die Opposition hat Konzepte vorgelegt. Wir haben unseres schon vor vier Wochen vorgelegt. Aber die Landesregierung ignoriert das leider völlig und bezieht keine Position dazu.

Hätten Sie nur einmal den Blick in die anderen Bundesländer gewagt, dann wäre Ihnen vielleicht noch etwas aufgefallen: Es ist durchaus machbar, dass die Elternbeiträge für die geschlossenen Kitas vom Land übernommen werden können. Ich nehme nur einmal unsere direkten Anrainer: Thüringen hat die Kita-Beiträge komplett übernommen. Bayern hat sie übernommen. Baden-Württemberg zahlt 100 Millionen € an seine Kommunen, damit diese die Beiträge erlassen können. In Rheinland-Pfalz gilt sowieso schon die fast komplette Beitragsfreiheit. In Hessen hört man von der Landesregierung nur, dass die Forderungen der Kommunen, die es nicht mit ansehen konnten, dass die Eltern so unter Druck stehen und dann dafür auch noch Geld abgeknöpft bekommen, auf eine große Halde kommen und man einmal schauen kann, was davon finanziert ist. Geben Sie endlich die Zusage, die Elternbeiträge für die Corona-Monate aus originären Landesmitteln zu übernehmen.

(Beifall DIE LINKE)

Natürlich haben wir von der Landesregierung keine Detailplanung erwartet. Aber wie wäre es denn z. B. gewesen, wenn Sie sich zu einem zeitweisen Aufenthalt in Kitas geäußert hätten, wenn Sie Empfehlungen ausgesprochen hätten, dass die Kinder in der Schuleingangsphase bevorzugt wieder in die Kitas aufgenommen werden sollen? Aber den Trägern diese Entscheidung aufzubürden, führt nicht zu Chancen- und Bildungsgerechtigkeit, sondern zu Willkür, die am Ende noch zahlreiche negative Folgen haben wird.

Ich will Ihnen nur ein Beispiel für die negativen Folgen nennen: Nehmen wir einmal ein mittelständisches Unternehmen, in dem drei junge Mütter mit Kindern im Kita-Alter normalerweise in Vollzeit beschäftigt sind. Ich sage mit Absicht „Mütter“; denn wir wissen, dass die Frauen in dieser Krise überproportional viel Sorgearbeit zulasten von Erwerbsarbeit leisten müssen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Mit Blick auf die nächste Woche kann jetzt eine Mutter der Personalabteilung mitteilen, dass sie wieder voll einsteigt. Eine andere teilt mit, dass ihre Kinder die Kita drei Tage pro Woche nutzen können. Die andere muss Heimarbeit mit Kinderbetreuung vereinbaren – was bekanntlich nicht geht; das wissen wir ja –, weil ihre Kita sie zufällig nicht ausgewählt hat.

Jetzt kommt die erwartete Rezession, und die Geschäftsführung muss oder will Personal abbauen. Welche der drei Mütter geht voraussichtlich in die Erwerbslosigkeit? – Das können Sie sich jetzt an drei Fingern abzählen. Oder nehmen wir einmal an, es steht eine Beförderung in demselben Unternehmen an. Welche der drei Frauen wird befördert? – Keine, weil ein Mann den Job bekommt, der erfolgreich seiner Frau in den vergangenen Monaten den größten Teil der Sorgearbeit aufdrücken konnte.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Das ist die Realität, die viele Frauen durch diese Krise verstärkt erleben. Wir erleben einen massiven Rückschritt in der Emanzipation der Frauen, eine unfreiwillige Rückkehr zur Geschlechtertrennung in der Arbeitswelt. Selbst dort, wo Partnerinnen und Partner mit und ohne Kinder dies bisher anders gelebt haben und sich dieser Widersprüche bewusst sind, erleben wir genau diese Tendenz. – Ihr Umgang mit den Themen Kita- und Schulöffnung verstärkt diese Entwicklung deutlich, und das regt mich wirklich maßlos auf.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Das Wichtigste dabei sind aber die Kinder. Sie müssen aktuell ganz viel Ungewohntes erfassen. Was ist denn dieses Corona-Monster? Warum darf ich Oma und Opa nicht sehen? Warum laufen Papa und Mama und andere mit so komischen Masken herum? Warum durfte ich die ganze Zeit nicht auf den Spielplatz, und wo sind meine Freunde aus der Kita die ganze Zeit?

Während aktuell viel über Grundrechtseinschränkungen diskutiert wird, fallen die Kinderrechte komplett hinten runter. Gelten denn die Rechte der Kinder auf umfassende Bildung, auf Beteiligung, auf körperliche Unversehrtheit und auf soziale Sicherheit in Hessen noch?

Ich möchte dazu noch einmal auf den eingangs erwähnten Brief der Frankfurter Kinderbeauftragten hinweisen, der die Position des Kindes in der aktuellen Situation deutlich herausstellt. Vielleicht wäre diese Perspektive auch in Hessen deutlicher wahrnehmbar, wenn nicht seit einem Jahr die Stelle der Kinderrechtsbeauftragten unbesetzt wäre. Das ist eine weitere Leerstelle dieser Landesregierung.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Kinderrechte nur in die Verfassung zu schreiben und sie dann zu ignorieren, ist kinderfeindlich.

(Elisabeth Kula (DIE LINKE): Ja, genau!)

Im offenen Brief aus Frankfurt wird völlig zu Recht darauf verwiesen, dass in der aktuellen Situation wieder Kinder zu Objekten degradiert und nicht in ihrer Subjektposition wahrgenommen werden.

Wir wissen, dass aktuell die Zahl der Kinder, die Gewalt erleben, deutlich zugenommen hat. Kinder und Jugendliche können gewalttätigen Situationen im häuslichen Umfeld in der Pandemie viel schlechter aus dem Weg gehen. Eltern, die nur über eine eingeschränkte Resilienz verfügen, drohen, familiäre Konflikte gewaltsam zu beenden.

Noch dazu war das ambulante Gewaltschutz- und Unterstützungssystem zu Beginn der Krise weitgehend lahmgelegt – das ist es immer noch –, weil Schutzmaterialien für die Beschäftigten fehlten oder deren Kinder anfangs nicht in die Notbetreuung durften. Noch heute sind viele Fachkräfte der Jugendämter zur Verstärkung der Gesundheitsämter abgeordnet. Das alles wird natürlich dadurch verschlimmert, dass Kitas und auch Schulen, die einen wesentlichen Beitrag zum institutionalisierten Gewaltschutz liefern, weitgehend geschlossen sind.

Eine klare Empfehlung für einen zeitweisen Besuch der Kitas wäre so wichtig, damit möglichst zeitnah möglichst viele Kinder wieder mit außerfamiliären Bezugspersonen in Kontakt kommen und Gewaltschutzkonzepte wieder besser greifen können.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Herr Klose, Sie haben ein Konzept verkündet, das keines ist. Sie haben dieses lediglich mit den Kommunalen Spitzenverbänden vereinbart. Sie haben niemanden sonst beteiligt – weder Eltern noch Träger und schon gar nicht die Kinder. Sie haben deutlich gemacht, dass Ihnen Autos und Biergärten wichtiger sind als Kinder. Das ist eine Bankrotterklärung für eine schwarz-grüne Regierung.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Präsident Boris Rhein:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Mein letzter Satz: Beenden Sie Ihr Versteckspiel, schaffen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen, damit alle Kinder in Hessen einen gerechten Zugang zu hessischen Bildungseinrichtungen haben. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE und SPD)