Reden im Landtag

Christiane Böhm - Der Kampf gegen Femizide muss ein Schwerpunkt des politischen Handelns werden

Christiane Böhm
Christiane BöhmFrauenGesundheit

In seiner 46. Plenarsitzung am 25. Juni 2020 diskutierte der Hessische Landtag über unseren Antrag zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Femizide. Dazu die Rede unserer frauenpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren!

Jeden dritten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet.

(Anhaltende Unruhe)

Ich möchte um Ruhe bitten; denn ich finde, auch Gewaltgegen Frauen ist ein Thema, das das ganze Parlament und nicht nur einen Teil des Parlaments angeht.

(Lebhafter Beifall DIE LINKE und SPD – Beifall CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jeden Tag gibt es mindestens einen solchen Mordversuch. Frauen sterben gerade deshalb in Partnerschaften, weil sie Frauen sind. Darum gibt es diesen aus Lateinamerika stammenden Begriff Femizid.

Die Morde sind die traurige Spitze eines Eisbergs. Jede dritte Frau erlebt im Laufe ihres Lebens, oft schon als Mädchen, sexualisierte Gewalt. Die meisten Gewalttaten und sexuellen Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen erleben Frauen in der eigenen Wohnung. Der angebliche Schutzraum der eigenen vier Wände existiert für viele Frauen nicht. Diese Erfahrungen reichen quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen.

Diese Zahlen sind lange bekannt. Der Umgang damit zeigt mangelndes gesellschaftliches Bewusstsein für die Situation von Frauen, Mädchen, aber auch von trans- und intergeschlechtlichen Personen, die ähnliche Leidenserfahrungen haben. Häusliche Gewalt bleibt eines der bedeutendsten Dunkelfelder in der Kriminalitätsstatistik. Mit dem heutigen Setzpunkt fordern wir die Landesregierung auf, das Thema ernst zu nehmen und ihren Beitrag dazu zu leisten, dass Frauen nicht weiter Gewalt angetan wird.

(Lebhafter Beifall DIE LINKE und SPD)

Vizepräsidentin Karin Müller:

Einen kleinen Augenblick bitte. – Ich bitte, auch die Gespräche auf der Regierungsbank draußen zu führen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ursprünglich war der heute aufgerufene Antrag bereits für die Landtagssitzung im März vorgesehen, dann kam Corona. Aber schon damals war klar, dass das Thema „häusliche Gewalt“ durch Corona nicht an Bedeutung verlieren wird – im Gegenteil. Das Zusammenleben auf sehr engem Raum, das es fast unmöglich macht, sich unbemerkt Hilfe zu holen, die Beschränkungen auf die Wohnung, die verhinderten, Gewalttaten jeglicher Art aus dem Weg gehen zu können, die Zunahme von Verunsicherung und Ängsten, die in einer patriarchalen Welt immer wieder dazu führen, dass ein Teil der Männer sich die eigene Überlegenheit dadurch zu sichern glaubt, dass er drangsaliert und schlägt – das alles führt zu mehr Gewalt gegen Kinder und Frauen.

Vor dieser Entwicklung haben Aktivistinnen und Beratungsstellen vom ersten Tag der Ausgangsbeschränkungen an gewarnt. Gut ist, dass in Hessen viele Kommunen zügig reagiert und auf eigene Kosten weitere Plätze für Frauenhäuser geschaffen haben. Vonseiten des Sozialministeriums kam zu diesen Fragen sehr lange nichts. Herr Klose, Sie haben schon fast mantraartig wiederholt, dass es keine Hinweise gebe, dass Hilfestrukturen während der Hochzeit der Pandemie mehr in Anspruch genommen worden seien. Das ist keine Beruhigung. Es belegt eindrücklich, dass sich die Gewalt zu Hause im Verborgenen ereignet und die Betroffenen kaum eine Chance haben, sich Unterstützung und Hilfe zu holen. Hierbei erwarte ich von einem Sozialminister, der auch für Frauenpolitik zuständig ist, mehr Sensibilität und mehr Einsatz.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Inzwischen haben wir eine erste Studie der TU München vorliegen, die die Erfahrungen von Frauen mit häuslicher Gewalt in der Pandemiezeit dokumentiert. An der repräsentativen Onlinebefragung haben sich 3.800 Frauen zwischen 18 und 65 Jahren beteiligt, und die Zahlen schockieren.

Jede 20. Frau berichtet, dass ihr Partner sich angemaßt hat, zu entscheiden, mit wem sie in Kontakt tritt. 3,1 % geben an, dass sie mindestens eine körperliche Auseinandersetzung erleben mussten, und 3,6 % der Frauen berichten von erzwungenem Geschlechtsverkehr durch den eigenen Partner. Wenn wir das hochrechnen, bedeutet es für Hessen 70.000 von Vergewaltigung betroffene Frauen – nur im partnerschaftlichen Kontext. Da haben wir noch keine Mädchen und jungen Frauen unter 18 Jahren dabei, keine Seniorinnen. Und das alles nur in einem einzigen Monat der Pandemie; das sollte aufhorchen lassen.

(Beifall DIE LINKE, SPD und Wiebke Knell (Freie Demokraten))

Das sind aber auch genauso viele Männer, die glauben, dass sie das Recht haben, über den Körper ihrer Partnerin bestimmen zu können. Meine Damen und Herren, um es ganz deutlich zu machen, sage ich: Ein solch vermeintlicher Besitzanspruch ist das Ergebnis einer patriarchalen Gesellschaft, die seit Jahrhunderten Frauen herabwürdigt und zur Besitzmasse des Mannes erklärt. Und dieses Besitzdenken eines Mannes über eine Frau führt eben im schlimmsten Fall dazu, dass er der Auffassung ist, sie ermorden zu dürfen, wenn sie ihm nicht zu Willen ist.

Engagierte Frauen haben die formale Gleichstellung von Männern und Frauen im Grundgesetz erkämpft. Aber von der Umsetzung im Alltag bleiben wir noch immer meilenweit entfernt.

(Unruhe)

Vizepräsidentin Karin Müller:

Einen kleinen Augenblick noch einmal. – Hier hinter der Wand ist es ziemlich laut. Ich würde empfehlen, ganz hinauszugehen.

(Zurufe: Das ist der Ministerpräsident! – Gegenruf Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Ja, und? – Zuruf: Wer auch immer! – Weitere Zurufe) – Auch der Ministerpräsident kann hinausgehen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Erfreulich ist zwar, dass jetzt Gewaltschutzstrukturen in Hessen besser unterstützt werden sollen. Die 3 Millionen € reichen aber nicht, um wirklich entscheidend voranzukommen. Es reicht nicht, um Hessens Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention zu erfüllen. Wir hatten bereits für den diesjährigen Haushalt 15 Millionen € angemeldet.

Die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, ist seit dem 1. Februar 2018 rechtsverbindlich in Deutschland umzusetzen. Wo ist denn das Konzept der Landesregierung, das uns Anfang letzten Jahres versprochen worden ist? Aktuell wird der erste Bericht zur Umsetzung in Deutschland vorbereitet. Ich erwarte ein weitgehend niederschmetterndes Ergebnis, weil viele Maßnahmen nach dieser Konvention nicht einmal ansatzweise umgesetzt worden sind – in Hessen genauso wenige.

Warum ist es in Deutschland beispielsweise noch immer üblich, dass bei Morden durch Partner oder Ex-Partner der Beziehungsstatus strafmildernd berücksichtigt wird? Warum kann die Bundesregierung noch immer nicht sagen, wie viele Femizide es in Deutschland gibt? Warum gibt es in Hessen noch immer keine Koordinierungsstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, obwohl sich dies aus dem Übereinkommen zwingend ergibt?

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Natürlich brauchen wir auch eine fortgesetzte Bewusstseinsbildung gerade bei wichtigen Funktionsträgerinnen und ‑trägern in unserer Gesellschaft, z. B. eine Polizei, die bei häuslicher Gewalt angemessen reagiert. Vielleicht haben Sie den Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ vom 2. Juni gelesen. Eine Nachbarin berichtet dort, wie sie gefilmt hat, dass ein Mann seine Partnerin mit Gewalt in die gemeinsame Wohnung gezwungen hat, und dass sie die Polizei angerufen hat. Die Polizei wollte das Video nicht einmal sehen und hat überhaupt nicht gehandelt. Sie ist gegangen, und es gab noch ein herzhaftes Lachen vonseiten des Polizisten mit dem Mann. Das ist kein Einzelfall.

Das „Echo“ hat am 7. Juni in einer sehr bewegenden und sehr eindrücklichen Reportage über eine Frau aus Gießen berichtet, wie diese Gewaltspiralen funktionieren. Das geht über Jahre, Schritt für Schritt werden auch selbstbewusste Frauen in die Defensive gedrängt. Körperliche Gewalt steht fast nie am Anfang der Entwicklung. Fast immer kommt es erst zu psychischem Druck, zur Isolierung der Frauen aus ihren Freundeskreisen, aus den Familien. Es folgen Beschimpfungen, Schläge und oft auch sexuelle Übergriffe. Der Artikel des „Echos“ zeigt eine Frau, die es irgendwann schafft, Nein zu sagen und zu gehen. Dann kommt die Silvesternacht 2019/2020, sie tritt auf den Balkon ihrer neuen Wohnung, und während ringsherum die Raketen in den Himmel steigen, schlagen knapp über ihrem Kopf die Schüsse ein. Ihr Mann hat versucht, sie zu ermorden. Wenige Tage später steht in den Zeitungen, Ursache seien „familiäre Streitigkeiten“ gewesen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Medien, aber auch der Polizeipressestellen, ein versuchter Mord an der ExPartnerin ist keine familiäre Streitigkeit. Ein Femizid ist kein Beziehungsdrama.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und Oliver Stirböck (Freie Demokraten))

Es ist ein klarer Mord. Wir brauchen eine klare Sprache, die die Dinge beim Namen nennt und nicht beschönigt.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Neben einem gesteigerten Bewusstsein brauchen wir viel mehr Präventionsarbeit, die in erster Linie Frauen stärkt, das Thema zu enttabuisieren. Wir brauchen starke Netzwerke für Frauen.

Wir brauchen auch Hilfe für die Täter. Wir brauchen eine deutliche Verstärkung der hessischen Beratungsangebote, damit auch die Männer zu den passenden Einrichtungen finden.

Wir müssen zu den Themen der Istanbul-Konvention in den relevanten Bereichen der Judikative und Exekutive zwingende Fortbildungen veranstalten. Öffentlichkeitskampagnen und Infrastruktur kosten ohne Frage Geld, ebenso wie die dringend erforderliche Verdopplung von Frauenhausplätzen in Hessen, aber nur so können wir Leben retten. 2019 wurden in Hessen nach der Erhebung von „One Billion Rising“ 17 Frauen Opfer eines Femizids.

Vizepräsidentin Karin Müller:

Frau Abg. Böhm, auch wenn es eben laut war, müssen Sie jetzt zum Schluss kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Danke. – Auch dieses Jahr sind in Hessen schon weitere Frauen von Partnern oder Ex-Partnern ermordet worden, z. B. am 2. Mai in Alsfeld.

Ich bin überzeugt, dass es uns gemeinsam gelingen wird, eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen. Das wird noch ein weiter Weg sein, aber am Ende muss auf die Frage: „Wie viele Femizide gab es im vergangenen Jahr?“ mit einer klaren Botschaft geantwortet werden können: keine mehr. – Danke schön.

(Beifall DIE LINKE und SPD)