Reden im Landtag

Christiane Böhm zu der Schaffung eines Gedenkortes für die Opfer der Odenwaldschule

Christiane BöhmFamilien-, Kinder- und JugendpolitkSoziales

In seiner 101. Plenarsitzung am 31. März 2022 diskutierte der Hessische Landtag auf Antrag der AfD über einen Gedenkort für Opfer der schrecklicen Vorfälle an der Odenwaldschule. Dazu die Rede unserer Sprecherin für Soziales, Familien und Kinder, Christiane Böhm.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Manchmal bin ich froh, dass ich, obwohl in der Geschäftsordnung steht, dass wir freie Reden halten sollen, ein Manuskript in der Hand habe. Diese Diskussion hat mich dermaßen mitgenommen. Ich habe so richtig gespürt, was es heißt: „Mir gefriert das Blut in den Adern“, als Herr Scholz gesprochen hat. Ich kann nur meine Fraktionsvorsitzende zitieren: Das war richtig widerlich.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD – Zuruf SPD: Das war Missbrauch!)

Wir haben es gehört: Zwischen 1965 und 2004 wurden an der Odenwaldschule systematisch Schülerinnen und Schüler von den Lehrkräften sexuell ausgebeutet und vergewaltigt. Der Stiftung „Brücken bauen“, die sich vornehmlich um die Durchführung und Unterstützung von Hilfsmaßnahmen für die Opfer dieser systematischen sexualisierten Gewalt kümmert, sind 140 Opfer bekannt. Es sind aber wesentlich mehr. Die Studie der Universität Rostock spricht von 500 bis 900 Opfern sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule.

Es gab Mitwisserschaft, passive bis aktive Unterstützung, Machtstrukturen und persönliche Allianzen, die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen über Jahrzehnte ermöglichten. Es ist wirklich desaströs, dass es so lange gedauert hat. Da kann ich nur Dank sagen an links-grüne Verlagshäuser, die den Mut gehabt haben, dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung zu bringen.

(Beifall DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker, lange Zeit einer der führenden Reformpädagogen, war demnach der Haupttäter. Allerdings wurden in dem Abschlussbericht neben Becker auch andere Lehrer, etwa Wolfgang Held und mindestens fünf weitere Lehrerinnen und Lehrer, als Verantwortliche benannt.

Mit Blick auf diese abscheulichen Taten muss es unsere zentrale Aufgabe sein: Es darf nie wieder – wirklich nie wieder – dazu kommen, dass Kinder und Jugendliche einem solchen System ausgeliefert werden.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Genau dafür gilt es wirklich alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen. Wir müssen schauen, dass es in der Schule, in der Heimaufsicht und ebenso in unabhängigen Anlaufstellen Hilfe für diese Kinder und Jugendlichen gibt.

Glücklicherweise hat jetzt das SGB VIII die Ombudsstellen im Gesetz verankert. In Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendhilfe sollen sie eine Anlaufstelle bieten, wenn Kinder und Jugendliche woanders keine offenen Türen und Ohren bekommen.

Ich hoffe sehr, dass wir mit der hessischen Ombudsstelle für Kinderrechte hier bald die notwendigen Fortschritte erreichen und in die Situation kommen, dass Kinder und Jugendliche in Hessen immer eine gute Anlaufstelle finden.

Ich danke auch der Kinderrechtsbeauftragten, dass sie sich in dieser Frage sehr engagiert; und ich erwarte von der Hessischen Landesregierung, dass die restlichen Hürden zur Einrichtung dieser Ombudsstelle tatsächlich jetzt unmittelbar abgeräumt werden.

(Beifall DIE LINKE)

Was aber in diesem extrem verletzlichen Kontext nicht zulässig ist – und das muss ich zu dem Antrag, der von der Rechtsaußenpartei hier vorliegt, noch einmal deutlich betonen –: Sie nutzen das Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen der Odenwaldschule, um Ihren ideologischen Kampf gegen die 68er-Bewegung und alle reformpädagogischen Schritte und Methoden zu führen.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Das ist eine reine Instrumentalisierung und widerlich. Ich glaube, so oft kann man heute gar nicht das Wort „widerlich“ sagen, wie es notwendig wäre.

Herr Scholz, wenn Sie von Zynismus sprechen, muss ich sagen: So viel Zynismus, wie wir heute von Ihnen gehört haben, geht auf keine Kuhhaut mehr.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen hat es lange vor und auch nach den 68ern gegeben. Die aktuelle Diskussion im Kontext der katholischen Kirche, die nun garantiert kein Pfeiler der modernen Sexualpädagogik ist, ist uns allen bekannt.

Falsch an der Reformpädagogik war und ist es nicht, dass Kindern und Jugendlichen eine eigene Sexualität zugestanden wird. Falsch war – und da ist die Odenwaldschule sicher das krasseste Beispiel in Deutschland –, dass Erwachsene kindliche Sexualität, die vollkommen anders ist als die von Erwachsenen, instrumentalisiert und getarnt als vermeintliche reformpädagogische Experimente für die eigene Befriedigung missbraucht haben.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Was aber die AfD will, ist die Rückkehr zur verklemmten und sexualfeindlichen Moral der Fünfzigerjahre,

(Zuruf AfD) die Kinder und Jugendliche auf eine andere Art von der eigenen natürlichen Körperlichkeit und Sexualität abschneidet. Das erleben wir – Sie haben es vorhin deutlich gemacht – in der Diskussion um den Bildungs- und Erziehungsplan, zu Lehrplänen und in Ihrem Kampf gegen eine angebliche Frühsexualisierung.

(Zurufe AfD)

Sie ignorieren damit ein Jahrhundert der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wahrscheinlich ist Ihnen auch schon Freud zu kommunistisch.

Genau diese sexualfeindliche Erziehung führt dazu, dass Kinder sich nicht gegen sexualisierte Gewalt wehren können. Das Gegenteil gilt. Es ist notwendig, Kinder tatsächlich stark zu machen, sodass sie Nein sagen können, dass sie sich Hilfe holen können, und dafür ist Aufklärung dringend erforderlich.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Wir wollen weder Ihre Rückständigkeit dulden noch sexuellen Missbrauch unter egal welchem Etikett. Wir werden aber auch nicht schweigen zu Ihrem völlig verzerrten, verfälschten und echt unanständigen Umgang mit dem Leid von Kindern und Jugendlichen, die diese Zeiten in der Odenwaldschule erlebt haben.

Am Schluss möchte ich Ihnen noch eines mitgeben: Bertolt Brecht hier zu zitieren, ist wirklich eine Bodenlosigkeit.

(Zuruf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der dreht sich im Grabe herum!)

Ich glaube, der Boden unter mir geht auf.

(Robert Lambrou (AfD): Was dürfen wir aus Ihrer Sicht denn überhaupt noch?)

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“, haben Sie zitiert. Das sind die Schlussworte aus dem Epilog zu dem Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Da ging es um das Emporkommen des Faschismus und die Karriere Hitlers – genau Ihre Sympathisanten.

(Robert Lambrou (AfD): Nein, das stimmt nicht!) Ich möchte zitieren, wie dieser Epilog zu Ende geht:

So was hätt einmal fast die Welt regiert!

Die Völker wurden seiner Herr, jedoch Dass keiner uns zu früh da triumphiert –

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!

Das ist bitte eine Mahnung an Sie. – Danke.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)