Reden im Landtag

Christiane Böhm: Pflegenotstand beenden, Personal (zurück-)gewinnen, Arbeitsbedingungen verbessern

Christiane BöhmFamilien-, Kinder- und JugendpolitkGesundheitSozialesWirtschaft und Arbeit

In seiner 104. Plenarsitzung am 12. Mai 2022 diskutierte der Hessische Landtag auf Antrag der LINKEN und passsend zum Tag der Pflege unseren Setzpunkt „Pflege geht uns alle an". Dazu die Rede unserer sozial- und gesundheitspolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich hoffe, die Reihen werden sich noch füllen. Schließlich geht es um ein wichtiges Thema. Heute ist der Internationale Tag der Pflege. Es ist der Tag, um die Leistung der Menschen für diese Gesellschaft zu würdigen, die tagtäglich Angehörige oder auch andere nahestehende Personen pflegen, die sich in Einrichtungen der stationären Pflege, in Kliniken, in Einrichtungen für Senioren und Menschen mit Beeinträchtigungen und in der ambulanten und teilstationären Pflege dafür einsetzen, dass andere ein Leben in Würde führen können, und zwar so viel Würde wie nur möglich.

(Beifall DIE LINKE)

Wir LINKE wollen diese Leistungen heute würdigen, indem wir konkrete Vorschläge machen, wie die Bedingungen für pflegebedürftige Menschen und die Pflegekräfte tatsächlich die Würde für alle garantieren. Dazu gehört, dass es nicht sein darf, dass es keine Zeit für die notwendigen Handgriffe und die Kommunikation gibt. Es darf nicht sein, dass die Familien nicht wissen, wie sie die Betreuung und die Pflege der Angehörigen organisieren sollen, ohne selbst dabei krank zu werden. Dazu gehört, dass die Pflegekräfte gerne in dem Beruf bleiben, weil sie ihn lieben, aber auch, weil sie wissen, dass sie nicht selbst unter dem Arbeitsstress, der Unzufriedenheit mit den Arbeitsabläufen und der Unvereinbarkeit mit der Familie leiden müssen.

Alle diese Themen werden von der Landesregierung gerne auf andere geschoben, auf die Krankenhäuser, die Krankenkassen, die Pflegeversicherung und natürlich die Kommunen. Die eigene Verantwortung wird meistens verneint. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Pflege der Menschen so relevant ist und eine solche brisante Entwicklung angesichts der älter werdenden Bevölkerung mit Multimorbidität und immer weniger Pflegepersonal nehmen wird, dass wir eine große gemeinsame Anstrengung brauchen, um diese klaffende Wunde in der Gesellschaft zu schließen.

(Beifall DIE LINKE)

Ich möchte mit dem Pflegenotstand beginnen. Fakt ist, dass in Hessen mindestens 12.000 Vollzeitpflegekräfte fehlen. Das ist die allervorsichtigste Berechnung.

Das betrifft auch die Kliniken. Wir haben über die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen bereits mehrfach gesprochen. Die Pflegekräfte im Saarland, in Rheinland-Pfalz, in Berlin und aktuell in Nordrhein-Westfalen machen uns deutlich, dass eine Entlastung in den Kliniken unbedingt erforderlich ist. In Nordrhein-Westfalen streiken gerade die Kolleginnen und Kollegen an sieben Universitätskliniken. Sie tun das seit einer Woche.

Auch in Hessen wird es Arbeitskämpfe in den Krankenhäusern geben. Da bin ich mir sicher.

(Beifall DIE LINKE)

Angesichts der aktuellen Belastungen im Arbeitsalltag brechen Auszubildende bereits die Ausbildung ab, weil sie sich der Arbeitsbelastung nicht gewachsen fühlen. Die Pflegekräfte verlassen scharenweise den Beruf. Das bedeutet: Fünf Jahre nach der Ausbildung ist nur noch die Hälfte der Beschäftigten da. Andere arbeiten unfreiwillig in Teilzeit, um der Belastung zu entgehen und angesichts der unvorhergesehenen Arbeitszeiten die Vereinbarkeit mit der Familie und anderen wichtigen Angelegenheiten zu erreichen.

Das Land hat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Ausbildung in der Pflege gute Rahmenbedingungen hat. Da schockt es schon, dass 25 % bis 30 % der Auszubildenden die Ausbildung abbrechen. Die fehlende Anleitung der Berufseinsteigerinnen und -einsteiger und die hohe physische und psychische Belastung sind nur zwei Gründe dafür. Wenn ich höre, dass die Auszubildenden an den Tagen der theoretischen Ausbildung nicht mehr an ihr Handy gehen, weil sie Angst haben, dazu gedrängt zu werden, nach der theoretischen Ausbildung noch einmal eine Schicht in der Klinik zu machen, kann ich das nachvollziehen. Es wäre das Mindeste, dass die Landesregierung die im Pflegeberufegesetz vorgeschriebene Ombudsstelle in der generalistischen Pflegeausbildung in Hessen umsetzt. Wir fordern Sie auf, das jetzt wirklich zu machen.

(Beifall DIE LINKE)

In den Pflegeschulen fehlen die Lehrkräfte. Hier ist die Landesregierung gefordert, dafür zu sorgen, dass es mehr Studierende im Masterstudiengang gibt, sodass sich die Pflegeschulen die Lehrkräfte nicht aus den anderen Bundesländern zusammensuchen müssen. Es gibt viele Schulen in Hessen, die haben keine einzige Lehrkraft, die wirklich aus Hessen stammt. Sie stammen aus den benachbarten Bundesländern.

Ein wichtiger Punkt ist die Rückgewinnung der Pflegekräfte, die aus dem Beruf ausgestiegen sind oder in Teilzeit tätig sind. Vor wenigen Tagen wurde die Studie vorgestellt „Ich pflege wieder, wenn …“. Dort wurde vermeldet, dass, konservativ gerechnet, 302.000 Vollzeitäquivalente wiedergewonnen werden könnten, wenn die Bedingungen stimmen würden. Heruntergerechnet auf Hessen wären das ungefähr 40.000 Pflegekräfte.

Die wichtigsten Ansprüche der Kolleginnen und Kollegen sind ein fairer Umgang untereinander und die Wertschätzung durch die Vorgesetzten. Nahezu gleichrangig sind die bedarfsgerechte Personalbemessung und mehr Zeit für die menschliche Zuwendung. Die Ergebnisse dieser Umfrage müssen doch für alle eine Motivation sein, alles dafür zu tun, die Kolleginnen und Kollegen wieder zurückzugewinnen.

(Beifall DIE LINKE)

Von der Hessischen Landesregierung erwarten wir bessere Arbeitsschutzkontrollen und den Einsatz des Landes für eine vernünftige Personalbemessung in den Kliniken. Die Pflegepersonalregelung PPR 2.0 ist sofort auf den Weg zu bringen. Natürlich braucht man auch eine bessere Personalbemessung in den Langzeitpflegeeinrichtungen.

Die Landesregierung hat aber noch mehr zu tun, um die Pflege zu stärken. Da die Schere zwischen den pflegebedürftigen Menschen und immer weniger Pflegekräften in Hessen immer weiter auseinandergeht, ist die Prävention eine wichtige Angelegenheit. Mir ist echt schleierhaft, warum sich die Landesregierung auf eine geriatrische Rehabilitation lediglich in allgemeinen Kliniken konzentriert und kaum die Möglichkeit einer spezialisierten Rehabilitationsklinik für die Menschen nutzt.

Gerade nach einer Erkrankung wieder auf die Beine zu kommen, hat eine große Bedeutung. Die Menschen möchten möglichst lange selbstständig in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Das sollen sie auch.

Seit der Einführung der Pflegeversicherung sind die Länder als die Träger der Sozialhilfe verpflichtet, sich an den Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen zu beteiligen. Allerdings sieht es auch bundesweit nicht gut aus. Statt der 5 Milliarden € sind es bundesweit keine 800 Millionen €. In Hessen waren es 2018 nur noch 400.000 €.

Seit 2015 gibt es in Hessen gar keine Möglichkeit, neue Anträge zu stellen. Hessen hat die investive Förderung völlig eingestellt. Die wenigen zinslosen Darlehen sind keine Alternative. Ich fordere die Hessische Landesregierung auf, wieder in die Investitionskostenförderung der Pflegeeinrichtungen einzusteigen. Nur so kann das Land Einfluss auf die Qualität und die Quantität der stationären Pflege in Hessen nehmen.

(Beifall DIE LINKE)

Es gibt noch mehr Möglichkeiten für ein wirkungsvolles Engagement wie die Weiterentwicklung der Pflegehilfskraftausbildung zu einer vollwertigen und anschlussfähigen zweijährigen Ausbildung. Man könnte die Anerkennung der ausländischen Berufsabschlüsse beschleunigen und im zuständigen Regierungspräsidium für mehr Personal sorgen.

Auf keinen Fall sollte man Menschen abschieben, die eine Ausbildung in dem Mangelberuf Pflege haben. Das ist zynisch und widersinnig. Das Mindeste wäre ein Bleiberecht, auch wenn wir als LINKE grundsätzlich gegen die Abschiebungen sind.

(Beifall DIE LINKE)

Es gibt viel zu diesem Thema zu sagen. Das wäre wirklich einmal eine Regierungserklärung wert, wenn die Regierung etwas dazu zu sagen hätte.

Wichtig ist mir ganz besonders, Lösungen für die vielen Familien zu finden, die ihre Nächsten pflegen, wie es der VdK so schön in seiner seit Montag laufenden Pflegekampagne ausdrückt. Eine wesentliche Forderung des VdK ist die Ausweitung der Beratung. Immer noch wissen viel zu wenige Pflegebedürftige und ihre Angehörigen über die Möglichkeiten Bescheid, Unterstützung zu bekommen. Es reicht überhaupt nicht, einen Pflegestützpunkt pro Kreis oder kreisfreier Stadt in Hessen zu haben. Auch wenn sie einmal ins Haus kommen, sind sie von den Menschen und deren Bedarf viel zu weit weg. Wir brauchen in Hessen viel mehr Beratungs- und Koordinierungsstellen.

(Beifall DIE LINKE)

Wir brauchen auch mehr und überall unterstützende Tagesangebote und teilstationäre Angebote wie Tages-, Nacht-, Übergangs- und Kurzzeitpflege. Es kann nicht sein, dass es Landkreise ohne eine einzige Tagespflegeeinrichtung gibt. Pflegende Angehörige brauchen mehr Entlastung durch professionelle Kräfte und Selbsthilfestrukturen.

Das alles ist Teil der kommunalen Altenhilfeplanung. Da höre ich schon: Die Kommunen sind verantwortlich. – Aber es ist Ihre Verantwortung als Landesregierung, die kommunale Altenhilfeplanung verpflichtend zu machen. Das muss mit hohen Qualitätsvorgaben versehen werden.

Verpflichtend heißt, dass die Kommunen dafür auch die finanziellen Mittel bekommen. Sonst hängt es immer von den Möglichkeiten und den Schwerpunkten vor Ort ab, wie das tatsächlich umgesetzt wird.

Vizepräsidentin Heike Hofmann:

Frau Böhm, kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ja. – Wir haben heute einige Ideen eingebracht. Wir erwarten, dass das Thema ernsthaft angegangen wird. Das kann nicht nur mit einer Studie geschehen. Denn alle Menschen in diesem Land erwarten von Ihnen Lösungen. Denn alle werden mit diesem Thema früher oder später konfrontiert. Die Pflege geht uns alle an. – Ich bedanke mich.

(Beifall DIE LINKE)