Reden im Landtag
Christiane Böhm - Für eine moderne psychische Gesundheitsversorgung in Hessen
In seiner 124. Plenarsitzung am 24. Januar 2023 diskutierte der Hessische Landtag über unseren Gesetzentwurfs zur Hilfe und Unterbringung von Menschen mit Hilfebedarf infolge psychischer Störungen. Dazu die Rede unserer Sprecherin für psychische Gesundheit, Christiane Böhm.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren!
Ganz besonders begrüße ich die Schülerinnen und Schüler der Gustav-Heinemann-Schule aus Rüsselsheim.
(Zuruf Tobias Eckert (SPD))
Stellen Sie sich einmal vor, der Vorstandsvorsitzende eines bekannten Automobilunternehmens schreibt den Hessischen Ministerpräsidenten an, beschreibt die aktuelle Situation in seinem Unternehmen und bittet um Unterstützung. Dem Ministerpräsidenten ist das nicht einmal eine Antwort wert.
Die Klinikdirektoren aller psychiatrischen Kliniken in Hessen haben im Dezember 2021 den damaligen Ministerpräsidenten Volker Bouffier und im Oktober 2022 den jetzigen Ministerpräsidenten Boris Rhein angeschrieben, beim ersten Mal mit einem umfangreichen Schreiben und einem Katalog von Lösungsvorschlägen. Daraufhin gab es die lapidare Antwort, es wäre schon alles in Ordnung. Beim zweiten Mal gab es gar keine Antwort.
Sagen Sie mir doch einmal: Warum läuft die Psychiatrie in diesem Land völlig unter dem politischen Radar der regierenden Parteien? Wir hatten die Reportage über FrankfurtHöchst. Wir haben die Beschwerden über viele Kliniken. Wir haben die Klagen der Psychiatrieerfahrenen und deren Angehöriger. Wir erleben, dass in psychiatrischen Kliniken das Personal scharenweise wegläuft.
Und was passiert in der Hessischen Landesregierung? – Nichts. Sie wissen nicht einmal, wie viele Fixierungen es gibt. Sie veröffentlichen die Berichte der Besuchskommissionen nur, wenn wir ständig nerven. Es ist verantwortungslos, dass die Qualität der psychiatrischen Versorgung diese Landesregierung und diesen Gesundheitsminister überhaupt nicht interessiert.
(Beifall DIE LINKE)
Den Kliniken läuft das Personal davon, weil die Kollegen eine sinnvolle und im Interesse der Patienten tatsächlich erfolgreiche Arbeit erbringen, aber nicht andauernd den massiven Mangel verwalten wollen. Psychiatrien sind meist die schlechtesten Gebäude in den Kliniken, obwohl die Patienten dort viel länger bleiben, obwohl die Umgebung sehr wichtig ist, obwohl beispielsweise Licht und Natur gesundheitsfördernd sind.
Wir haben überlaufende forensische Stationen. Jeder Landeshaushalt schraubt die Ausgaben nochmals um etwa 10 % höher. Trotzdem haben wir eine Überbelegung von 115 %. Es gibt immer weniger ausgebildetes Fachpersonal. Immer mehr Assistenzkräfte auf den Stationen arbeiten meist aus Leiharbeitsfirmen.
Auf was warten Sie eigentlich noch? Dass noch mehr Mitarbeiter auf den Stationen angegriffen und verletzt werden? Dass noch mehr Menschen in eine Verzweiflungstat getrieben werden, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wissen? In fünf Jahren ist die Hälfte der Psychiater in Hessen in Rente gegangen. Wir wissen genau, dass es keinen Nachwuchs gibt. Es ist wirklich an der Zeit, aufzuwachen, Herr Klose und Schwarz-Grün.
(Beifall DIE LINKE)
Zumindest müssen Sie sich heute der Beratung unseres Gesetzentwurfs stellen. Sie werden sich sicherlich auch in Auseinandersetzungen mit psychiatrischen Einrichtungen begeben müssen, weil diese ihre Geduld längst verloren haben.
Wir zeigen mit unserem Gesetzentwurf auf, dass es auch anders geht, dass man eine Psychiatrie ohne Zwang ernsthaft ansteuern kann, dass man eine ambulante Versorgung auf den Weg bringen kann, die nicht von den finanziellen und örtlichen Gegebenheiten und dem Goodwill vor Ort abhängig ist, dass man ein echtes Konzept für Krisenhilfen auflegen kann, wie es z. B. in Bayern inzwischen flächendeckend existiert. Dies aber nicht zum Nulltarif für diese Landesregierung. Nein, das würde 7 Millionen € im Jahr kosten. Sie können natürlich sagen, das ist viel Geld. Ich weise Sie aber darauf hin, dass Sie Jahr für Jahr deutlich höhere Aufwüchse für die Forensik genehmigen. Prävention kostet jetzt erst einmal Geld, aber auf Dauer senkt sie die Kosten massiv.
(Beifall DIE LINKE)
Wir haben es uns mit diesem Gesetzentwurf nicht leicht gemacht. Wir haben aus dem hessischen Gesetz die Struktur und einige Vorschriften erhalten, die passend sind. Wir haben aus dem schleswig-holsteinischen Recht insbesondere das Selbstbestimmungsrecht und die Verhinderung von Zwang übernommen, wobei wir hier noch einen Schritt weitergegangen sind. Wir haben aus Dänemark die politische Vorgabe übernommen, Zwangsmaßnahmen kontinuierlich zu reduzieren. Es ist nicht zwangsläufig, dass psychiatrische Einrichtungen aus den Fugen geraten, dass immer mehr Patienten von weniger Personal versorgt werden. Nein, es geht deutlich anders.
Wir haben uns intensiv mit den Vorwürfen der Richter auseinandergesetzt, die diese in der Anhörung im Jahr 2021 vorgebracht haben. Diese haben dem Gesetz der Landesregierung eine partielle Verfassungswidrigkeit vorgeworfen. Beispielsweise ist es nicht verfassungsgemäß, einwilligungsfähige Personen zwangsweise gegen ihren Willen zu behandeln.
Ich kann Ihnen erzählen, wie es passiert, wie mit Menschen in psychischen Krisen umgegangen wird. Ein Beispiel: Eine manische Patientin wird in der Klinik untergebracht und gegen den Willen der Betreuerin fixiert. Nachdem die Betreuerin vor Ort die Entfixierung fordert, sagte der erschöpfte und entnervte Oberarzt: Na gut, dann machen wir es halt. – Das passiert, weil die Betreuerin vor der Tür so lange wartet. Dabei beobachtet sie die angebliche 1:1-Betreuung. Die Fixierte liegt in ihrem Bett mit einer Fünf-Punkt-Fixierung. In der Tür gibt es ein Fenster. Auf dem Flur gibt es ein Schwesternzimmer mit einer Fensterfront. Dahinter sitzt eine Sitzwache am PC, schaut in den PC und von Zeit zu Zeit durch zwei Fenster in den Raum mit der Fixierten.
Das ist die Realität in einigen Kliniken, aber sicher nicht in allen Kliniken. Das entspricht aber nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Dabei gibt es doch genügend Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen.
Unser Gesetzentwurf zur Stärkung der Sozialpsychiatrischen Dienste und der Krisenhilfe würde verhindern, dass so viele Patienten in den Kliniken landen. Eine frühzeitige Intervention durch Personal vor Ort und nicht nur eine „Telefonseelsorge“, wie es Minister Klose bezeichnet hat, würde die Situation beruhigen. Man muss mit den Familien und ihrem Umfeld arbeiten und unter Umständen vorübergehend ein Bett in einer Krisenpension anbieten. Eine Behandlung, die nicht nur medikamentös, sondern therapeutisch – auch mit kreativen Angeboten – erfolgt, würde dafür sorgen, dass die Patientinnen und Patienten eine erhöhte Compliance haben und die Medikamente nicht gleich nach dem Klinikaufenthalt wieder absetzen und nach kurzer Zeit zur Drehtür wieder hereinkommen.
Wir brauchen eine systematische Ausbildung und Einbeziehung von Genesungsbegleiterinnen und -begleitern. Die Stärkung der Beschwerdestellen und der Besuchskommission böte die Chance, dieses System zu stärken und personelle Engpässe zu überwinden. Das darf aber nicht nur mit rein ehrenamtlichem Engagement geschehen.
Offene Stationen würden dafür sorgen, dass sich Untergebrachte nicht in einer Zwangssituation erleben, die dazu führen kann, dass sie später in eine neue Krankheitsschleife geraten. Die Rechte der Untergebrachten in Zwangssituationen zu stärken, führt zu mehr Selbstbestimmung und zu mehr Compliance. Genauso notwendig wie eine stationsäquivalente Behandlung ist die Stärkung der Zusammenarbeit mit Psychiatrieerfahrenen und mit Angehörigen.
Es ist möglich und erforderlich, in der Psychiatrie die Zahl der Betten abzubauen; aber es ist nur dann möglich, Menschen in einer akuten Krise im häuslichen Umfeld zu behandeln, wenn das notwendige Personal vorhanden ist. Unser Gesetzentwurf zeigt Ihnen, wie das gelingen könnte.
(Beifall DIE LINKE)