Reden im Landtag
Christiane Böhm - Das Schweigen zu Armut brechen
In seiner 129. Plenarsitzung am 16. Februar 2023 diskutierte der Hessische Landtag auf Antrag der LINKEN zum dritten Hessischen Landessozialbericht. Dazu die Rede von Christiane Böhm.
Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren!
Armut scheint nicht das zentrale Thema dieses Landtags zu sein, wenn ich mir jetzt die Besetzung des Plenums anschaue.
Dabei haben wir diesen Landessozialbericht mit 364 Seiten. Er ist ein gewichtiges Argument, endlich in Hessen die Armutsbekämpfung anzugehen.
(Beifall DIE LINKE)
Allerdings schreibt die Landesregierung in diesem Bericht darüber so gut wie gar nichts. Es ist ein Skandal, dass Sie zuschauen, wie die Anzahl der Armen in Hessen ständig wächst, und nichts dagegen tun. Wir fordern die Hessische Landesregierung auf, endlich ihrer Aufgabe nachzukommen und Armut entschieden zu bekämpfen.
(Beifall DIE LINKE und Stephan Grüger (SPD))
Aber auch der Hessische Landtag muss sich mit diesen Zahlen auseinandersetzen. Schwarz-Grün hat in seiner Regierungszeit ganze Arbeit geleistet. 2015 lag Hessen bei der Armutsquote noch direkt hinter Baden-Württemberg und Bayern auf einem guten dritten Platz. Inzwischen hat es unter den westdeutschen Flächenländern die zweithöchste Armutsquote, kurz hinter Nordrhein-Westfalen.
(Stephan Grüger (SPD): Hört, hört! – Elisabeth Kula (DIE LINKE): In so einem reichen Land!)
Die Armutsrisikoquote in Hessen lag laut diesem Bericht 2020 bei 17,9 %. 2021 zeigt uns der Armutsbericht der Parität, dass es schon 18,3 % sind.
Das Schlimme ist, es interessiert Sie nicht. Wenn ich in dieses Plenum schaue, wird es mir ganz deutlich. Sie wollen nicht einmal wissen, warum es immer mehr Armut in Hessen gibt. Diese Landesregierung ist aber in der Pflicht, untersuchen zu lassen, welche tatsächlichen Gründe es gibt, dass fast jede zweite Alleinerziehende von Armut betroffen ist, dass die Armutsquote in Mittelhessen mit 20,1 % am höchsten ist und dass Kinder ein Armutsrisiko sind.
Ich zitiere einen Poetry-Slam von Ella Elia Anschein:
Armut ist, wenn du dich als Kind für dein Teuersein schämst.
Denn Armut ist, das dritte Kind zu sein in einem Land,
in dem Armutsrisiko ab dem dritten Kind exponentiell ansteigt.
Familienpolitik heißt aber, dafür zu sorgen, dass Kinder in diesem Land gut aufwachsen können, dass sie so viel Bildung bekommen wie möglich, dass sie unter gesunden Lebensverhältnissen leben können und ihre Familie die nötige finanzielle und infrastrukturelle Unterstützung erhält, dass Familien mit Kindern und nicht das Ehegattensplitting gefördert werden.
(Beifall DIE LINKE)
Es ist ein winzig kleiner Fortschritt, dass die Landesregierung sich dem Konzept der Präventionsketten gegen Kinderarmut annähert. Allerdings fördert sie nur in zehn von 26 Landkreisen die Maßnahmen, die die Kommunen selbst finanzieren müssen. Das ist nur ein kleines Pflästerchen gegen die große Wunde Kinderarmut in diesem Land.
20 % der Kinder und Jugendlichen und über 30 % der weiblichen jungen Erwachsenen in Hessen sind armutsgefährdet. Was heißt das? Kinder in Armut haben zu wenig oder nichts Gesundes zu essen. Sie haben zu wenig Spielzeug oder nicht das gewünschte. Arme Kinder und Jugendliche haben nicht die Klamotten, mit denen sie sich auf dem Schulhof akzeptiert fühlen, nicht das Zimmer in der Wohnung, in dem man in Ruhe lernen kann, nicht die Bandbreite und die Geräte, um die Hausaufgaben zu machen und zu chatten.
Die grundlegenden Kinderrechte können für sie nicht erfüllt werden. Die Gefährdung und die Armut liegen nur eine Haaresbreite auseinander. Meist sind sie dasselbe.
Ganz anders ist es mit dem Reichtum in diesem Land. Der Anteil der Einkommensmillionärinnen und ‑millionäre ist überdurchschnittlich hoch und in den letzten Jahren weiter gestiegen. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung in Hessen besaß lediglich 6 % des Gesamtvermögens, während die obersten 10 % fast die Hälfte des Vermögens haben.
Was sind die Gründe dafür, dass Deutschland zu den Ländern gehört, in denen die Ungleichheit am stärksten ist? Mythen darüber gibt es in der Landesregierung viele. Für die einen ist es die Bildung. Wenn wir allerdings auf die Hochschulen mit den vielen Postdocs und befristeten Beschäftigten schauen, die sich von einem Teilzeitarbeitsverhältnis zum nächsten hangeln, sehen wir, dass dies nicht der alleinige Schlüssel sein kann.
Minister Klose nennt immer die Arbeitslosigkeit. Die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit hilft allerdings den heutigen Armutsrentnerinnen und ‑rentnern nichts mehr. Gerade die Frauen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien, weil Erwerbs- und Care-Arbeit nicht vereinbar waren, die somit kleine bis Minirenten haben, leiden darunter.
Kinderreichtum und Armut bedingen sich in diesem Land zumeist. Das hängt mit einer katastrophalen Familienund Steuerpolitik zusammen, die Alleinverdienerinnen und ‑verdiener statt Alleinerziehende unterstützt.
(Beifall DIE LINKE)
Migrationsgeschichte ist ein großes Armutsrisiko. 29 % von ihnen sind arm. Bei Menschen ohne deutschen Pass sind es schon 35 %. Das heißt, es gibt ziemlich viele Möglichkeiten, in Hessen arm zu sein: Man hat prekär beschäftigte Akademikereltern, ist das dritte Kind. Die Großeltern sind aus dem Ausland zugewandert. Man ist Rentnerin oder Mieterin – auch das ist ein hohes Armutsrisiko bei hohen Mieten und kaum beeinflussbaren Nebenkosten.
Reich zu sein ist einfacher. Man wächst einfach in einer reichen Familie am richtigen Ort mit der besten Bildung und, am besten noch, privater Hochschule auf. Dann ist der Reichtum garantiert. Man erbt ihn und vermehrt ihn.
Hat das irgendetwas mit Gerechtigkeit zu tun? Nein. Gerecht wäre, wenn sich die Politik um den Ausgleich der Unterschiede bemühen würde, wenn eine Landesregierung tatsächlich allen Kindern gleiche Voraussetzungen für eine gute Entwicklung verschaffen würde, wenn Kinder- und Jugendlichenarmut, die Armut der Alleinerziehenden, der Frauen, der Männer, der Eingewanderten, der Rentner und Rentnerinnen wirksam bekämpft werden würden.
Nicht nur Bertolt Brecht, der vor Kurzem seinen 125. Geburtstag gefeiert hätte, sondern auch Papst Franziskus erkannte, dass Armut und Reichtum zwei Seiten der gleichen Medaille sind.
Die Aufgabe der Politik ist es, den unverschämten Reichtum zu begrenzen, damit die verschämte Armut bekämpft werden kann.
(Beifall DIE LINKE)
Was hat sich denn diese Landesregierung laut diesem Landesbericht hinsichtlich der Armutsbekämpfung vorgenommen? Sie hat 13 Maßnahmen aufgeschrieben. Fünf davon sind vage. Fünf sind sehr vage. Drei werden geprüft. Nur bei einer Maßnahme werden Sie etwas konkreter. Sie prüfen, ob Sie die Unterstützung des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter ausweiten wollen. Allerdings muss man wissen, dass Sie die Unterstützung im letzten Jahr eingestellt haben. Erst Ende des Jahres haben Sie das wieder ein bisschen aufgenommen. Damit war es nicht mehr möglich, die vielen Beratungsgespräche und Unterstützungsangebote zu garantieren. Das ist eher ein Trauerspiel als eine tolle Ansage.
(Beifall DIE LINKE)
So haben wir uns die Umverteilung nicht vorgestellt. Statt finanzielle Ressourcen und staatliche Förderung zu bieten, kommen immer mehr Belastungen und Verantwortung auf die Schultern der Ehrenamtlichen. Hören Sie auf, zu prüfen. Unterstützen Sie endlich die Präventionsketten gegen Kinderarmut, indem Sie an den Orten, an denen es besonders notwendig ist, nicht nur die Begleitung, sondern auch die Strukturen fördern.
Kümmern Sie sich endlich um bezahlbares Wohnen, statt sich für ein paar Sozialwohnungen zu feiern. Führen Sie die Mietpreisbremse ein. Unterstützen Sie Genossenschaften und kommunale Wohnungsbaugesellschaften sowie die Kommunen, damit bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird und die Wohnungen in der Sozialbindung bleiben. Kümmern Sie sich darum, dass kein Wohnraum leer steht und dass es keine Obdach- und Wohnungslosigkeit gibt.
Sorgen Sie dafür, dass es Arbeitsverhältnisse gibt, die nicht zu Alltagsarmut führen. Setzen Sie sich im Bund für einen höheren Mindestlohn und die Kindergrundsicherung ein. Fangen Sie endlich an, die Armut zu bekämpfen. Verunglimpfen Sie die armen Menschen nicht mehr. Tun Sie sie nicht kriminalisieren und entwürdigen.
(Beifall DIE LINKE)
Haben Sie keine Angst, das wird nicht die letzte Debatte zum Thema Armut in dieser Wahlperiode sein. Wir werden Ihnen sehr konkrete Forderungen der Fraktion DIE LINKE unterbreiten. Die befinden sich im Übrigen in Übereinstimmung mit denen vieler Verbände.
Ich möchte mit einem weiteren Zitat von Ella Elia Anschein schließen:
Ich bitte die Armut ganz freundlich, sich doch bitte zu verpissen. Aber das macht sie nicht.
Sie freut sich über das Bewusstsein, das ich für sie entwickle, und rückt noch ein wenig näher an mich heran, bis ich ihren Atem wieder auf meiner Haut spüre. Aber weil ein Feind, den man kennt, manchmal weniger mächtig ist,
sehe ich sie jetzt an, sehe ihr in die Augen, ins Gesicht, in jede ihrer Poren.
Ich sage Ella Danke. Meine Forderung an Sie lautet: Schauen Sie sich die Armut genau an, um sie zu verhindern. – Danke sehr.
(Beifall DIE LINKE)